Deutschlands führender Cyberkriminologe Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger beurteilt für uns den Status quo der Strafverfolgung im Netz. Er erklärt, warum es seiner Meinung nach dringend so etwas wie Social-Media-Streifen braucht – und warum wir für die Umsetzung nicht weniger als eine vollkommen neue Polizeistrategie für das Netz benötigen.

Cyberkriminologe Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger
Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger, Leiter des Instituts für Cyberkriminologie an der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg

Schlagwort Rechtsfreiheit im Netz: Können Sie aus kriminologischer Sicht bestätigen, dass die Anzahl strafrechtlich relevanter Taten in den Sozialen Netzwerken steigt?

Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger: Nein, aber woran liegt das? Wir haben keinen Vergleich, zum Beispiel zu vor zehn Jahren. Das einzige was sich hier anbietet, sind die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik, die aber nicht Kriminalität wiedergeben, sondern lediglich angezeigte Sachverhalte. Im Netz ist die Diskrepanz zwischen angezeigten und tatsächlichen Delikten viel höher als im physischen Raum. Meine persönliche Einschätzung ist allerdings, dass die Straftaten zugenommen haben. Vor zehn Jahren war das „Ins-Netz-Gehen“ noch komplizierter und die Verbreitung von Smartphones geringer als heute. Heute haben 98 Prozent der Jugendlichen ein Smartphone. Und je mehr Menschen sich begegnen – ob online oder physisch –, desto mehr Straftaten treten auch auf.

Braucht es dann auch mehr Präsenz der Polizei in den Sozialen Netzwerken – gewissermaßen eine Social-Media-Streife?

Rüdiger: Wenn Sie in einer Großstadt auf dem Weg zum Supermarkt sind, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass Sie eine Streife sehen. In dieser Situation werden Sie mit Sicherheit nicht über eine rote Ampel gehen. Uniformierte Sichtbarkeit beugt also Ordnungswidrigkeiten und Straftaten vor. Wenn keine Polizei präsent ist, werden Räume schnell als rechtsfrei empfunden. Die daraus möglicherweise entstehende Situation der Enthemmung führt zu Normenüberschreitungen, die dann als Normalität wahrgenommen werden, was zu weiteren Straftaten, Kriminalität und Hass führt. Diesen Kreislauf müssen wir durchbrechen. Diesen Gedanken versuche ich unter anderem mit meiner Broken-Web-Theorie aufs Netz zu übertragen und plädiere daher auch für mehr Sichtbarkeit der Polizei auf den Sozialen Netzwerken.

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Bei einer solchen Forderung muss man die Frage stellen: Ist es überhaupt Sache der Polizei, auf dem Terrain von Meta, Twitter und Co. Nach dem Rechten zu schauen?

Rüdiger: Das Bundesverfassungsgericht hat im Rahmen einer Entscheidung zur Onlinedurchsuchung vereinfacht dargestellt entschieden, dass alles, was ohne eine Freundschaftsanfrage oder ähnliche Hürden im Internet zugänglich ist, eine Art Öffentlichkeit im Netz darstellt. Dadurch eröffnet sich auch die prinzipielle Zuständigkeit der Polizei. In einem Fußballstadion, bei einem Konzert oder Straßenfesten herrscht prinzipiell die gleiche Situation. Das sind Räume und Veranstaltungen, die von Vereinen oder Unternehmen betrieben werden. Dort ist die Polizei allgegenwärtig. Ich bin der Meinung: Wir brauchen Social-Media-Streifen. Wie das aussehen soll, muss die Gesellschaft diskutieren und entscheiden. Dazu muss es aber als Frage auf dem Tisch landen.

„Wir brauchen eine umfassende Polizeistrategie für das Netz“

Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger

Wie könnten diese Social-Media-Streifen denn aussehen?

Rüdiger: Eine sehr schwierige Frage. Zunächst geht es nicht darum, dass die Polizei im öffentlichen digitalen Raum immer zu sehen ist, sondern darum, wie im Straßenverkehr eine gewisse Wahrscheinlichkeit herzustellen, dass man auf diese treffen könnte. Aktuell gibt es Polizei-Accounts bei Twitter, Facebook und Instagram – und ein paar YouTuber. Außerdem existieren die Internetwachen der Länder. Diese sind aber rein stationär, so als gäbe es im Straßenverkehr nur Wachen, aber keine Streifen. In den Niederlanden ist die Präsenz und die Anzahl von Polizei-Accounts deutlich höher als in Deutschland. Konkrete Zukunftskonzepte müssen erst noch erarbeitet werden. Aber ich habe Beispiele, die zeigen, in welche Richtung es gehen könnte: Die Polizei Berlin hat bei Facebook unter Aufrufen, den Reichstag zu stürmen oder eine illegale Wannsee-Party zu feiern, Kommentare verfasst und klargemacht, dass sie auf diese Aktionen vorbereitet sei. Dies wäre eine Form zufälliger Präsenz ähnlich einer Streife im Straßenverkehr. Außerdem könnte man Icons einführen, die von den Plattformen wie Twitter verifiziert sind und die Personen beziehungsweise deren Accounts als Polizistinnen und Polizisten auszeichnen. Das sind aber nur meine Ideen, es kann auch ganz anders konstruiert werden. Die Diskussion darüber ist mir wichtig.

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Ideen sind das eine, die Umsetzung etwas vollkommen anderes. Sind die Strafverfolgungsbehörden personell überhaupt in der Lage, Straftaten im Internet adäquat zu begegnen?

Rüdiger: Eher nicht. Der Gedanke einer Streife ist nicht, nur Straftaten zu finden, sondern die Sichtbarkeit zu erhöhen. Auf der Straße ist es höchst unwahrscheinlich, live eine Straftat zu beobachten. Im Netz ist Kriminalität aber in einer Form sichtbar, dass die Polizei sofort und permanent handeln müsste. Ein Polizist, der im Netz auf Streife geht, würde vermutlich jeden Tag mit dutzenden Anzeigen zurückkommen. Im Netz wird weniger zur Anzeige gebracht, weil die Menschen den Staat dort als unterrepräsentiert und die Straftaten als zu normal erachten. Oder wann haben Sie das letzte Mal eine Phishingmail zur Anzeige gebracht? Wenn nun die Polizei sehr viel aktiver dazu auffordern würde, betrügerische Mails, das Zusenden von Dick-Pics oder die Anbahnung sexuellen Missbrauchs zur Anzeige zu bringen, würden die Fallzahlen steigen und die Aufklärungsquote sinken. Politisch ist das natürlich unbeliebter, als von sinkenden Zahlen in der Polizeilichen Kriminalstatistik berichten zu können. Als Gesellschaft müssen wir nun darüber diskutieren, wem wir die Verantwortung für die Strafverfolgung im Netz und auf Plattformen wie Facebook übergeben möchten. Wer im Netz die Hemmungen verliert, überträgt dies mitunter auf den physischen Raum. Das kann uns nicht egal sein. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen. Und da gilt auch nicht die Ausrede: „Wir haben keine Ressourcen. Wie sollen wir das machen?“ Wir brauchen eine umfassende Polizeistrategie für das Netz, denn diese gibt es so nicht.

Screenshot eines Social Media Beitrags der Polizei München
Einige Polizeipräsidien nutzen Social Media, vor allem Facebook und Twitter, um unter anderem auf aktuelle Gefahrenlagen aufmerksam zu machen oder die Bevölkerung um Hinweise zu Verdächtigen zu bitten. Hier ein Beispiel der Polizei München.

Sie haben in Ihrer Antwort zwischen den Zeilen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz gestreift, mit dem niemand so richtig zufrieden ist…

Rüdiger: … und bei dem man sich fragen muss: Was hat es gebracht? In einigen Bereichen beobachten wir sogar einen Anstieg von Hasskriminalität. Es gibt mittlerweile Situationen, in denen Polizeipräsidien die Kommentarfunktion auf ihrem Facebook-Account vorübergehend deaktiviert haben, weil sie selbst dort mit Hasskommentaren konfrontiert wurden.

„Wir brauchen Innenpolitiker, die den Mut haben, alte Konzepte zu durchbrechen“

Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger

Beim Thema Zuständigkeit muss man irgendwann auch das Fass „Föderalismus“ aufmachen.

Rüdiger: Föderalismus ist einer der Gründe, warum so wenig passiert. Die Gefahrenabwehr benötigt eine sachliche und örtliche Zuständigkeit. Die Polizei Berlin ist zum Beispiel vereinfacht gesagt nur in den Landesgrenzen Berlins zuständig. Im Netz haben wir keine Landesgrenzen, daher gehört es zu den kaum diskutierten Fragen, wie es dort eigentlich mit den Zuständigkeiten aussieht. Ich favorisiere eine Lösung, bei der die Landesbehörden ihre Zuständigkeit an das BKA oder eine neu zu schaffende Institution auf Bundesebene abgeben, die zumindest in Deutschland grenzfrei für das Netz zuständig ist. Als nächstes müssen wir dann über Europa und Globalität sprechen.

Internetwache Berlin
In den Online-Wachen der Länder können Anzeigen zu bestimmten Delikten online aufgegeben werden. Hier die Angebote aus Berlin...
Internetwache Sachsen-Anhalt
... und Sachsen-Anhalt.

Wäre das ein weiterer Punkt für die geforderte Internet-Polizeistrategie?

Rüdiger: Ja, genau. Wir brauchen jetzt Innenpolitiker, die den Mut haben, alte Konzepte zu durchbrechen. Es wird einhergehen mit der Änderung des eben beschriebenen Legalitätsprinzips, also der Pflicht, jeden Anfangsverdacht zu verfolgen. Die ergibt im Netz keinen Sinn. Das sind aber alles dicke Bretter, an die sich viele nicht herantrauen. Da präsentiert man lieber stetig gute – im Sinne von sinkenden – PKS-Fallzahlen.

Was raten Sie Social-Media- und Community-Manager*innen von Unternehmen und Behörden, wenn sie oder andere Personen auf ihren Kanälen beleidigt oder bedroht werden?

Rüdiger: Das kommt auf die Delikte an. Bei Beleidigungen immer einen Screenshot anfertigen und darauf achten, dass Datum und Uhrzeit zu sehen sind. Diese kann man zum Beispiel bei den Internetwachen hochladen. Außerdem würde ich nie darauf reagieren. Für das Thema Hatespeech gibt es beispielsweise hassmelden.de. Bei Kinderpornographie gilt das nicht. Denn durch den Screenshot vervielfältige ich dieses Material und mache mich damit selbst strafbar, wenn es vorher keine Rücksprache mit der Polizei gab. Von den Chats können Screenshots angefertigt werden, aber nicht von den Bildern und Videos selbst.

„Massiv in Medienkompetenz investieren“

Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger

Gut ausgebildeten Community-Manager*innen werden diese Hinweise vielleicht bekannt sein. Wenn irgendjemand die Kanäle nebenher mitbetreut, ist das eher nicht der Fall.

Rüdiger: Das ist richtig. Grundsätzlich sollten Unternehmen nicht den Fehler machen, dass sie den jungen Mitarbeitenden eine große Medienkompetenz unterstellen nach dem Motto: „Die sind ja damit aufgewachsen.“ Denn wer soll es ihnen denn beigebracht haben? Man sieht es etwa daran, wie oft junge Eltern Bilder von ihren Kindern posten, ohne über die Risiken zu reflektieren. Daher plädiere ich dafür, dass Unternehmen und Behörden massiv in die Medienkompetenz von jungen und älteren Mitarbeitenden investieren.

Foto eines Jungen, der Fortnite spielt
Tauchen in der Regel nicht in Social-Media-Statistiken auf: Online-Games. Dabei hat alleine Fortnite mehr Nutzer*innen als Twitter. Und auch Spiele sind ein Ort, an dem sowohl Erwachsene als auch Kinder und Jugendliche kommunizieren und interagieren.

Genau so sollte man es machen. Kriminalprävention sollte dort stattfinden, wo Minderjährige ihre Zeit verbringen. Das ist nun mal heute auch stark das Netz. Ich fordere auch Kinder-Online-Wachen, in denen niederschwellige Chat-Angebote speziell für Kinder angeboten werden. Mich stört auch der Fokus auf Facebook und Twitter. Dort sind Kinder gar nicht unterwegs. Bei Twitter geht es darum, Politiker und Journalisten zu bedienen, Präventionsarbeit für Kinder findet dort faktisch nicht statt. Die müssten wir über Twitch, TikTok und Instagram leisten – und über Online-Games.

„Dieses Unwissen, mit der Online-Games als Spielkram abgetan werden, ist nicht hilfreich.“

Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger

Wenn wir über Social Media sprechen, bleiben Online-Games in der Regel außen vor – ein Fehler?

Rüdiger: Ja, schauen Sie sich zum Beispiel Fortnite an. Allein dieses Spiel hat mehr Nutzer als Twitter. Und auch bei Fortnite vernetzen sich die Spielerinnen und Spieler und kommunizieren. Warum ist die Polizei bei Twitter, aber nicht bei Fortnite aktiv? Kein Kind ist mit neun Jahren bei Twitter, aber es spielt eventuell schon Online-Games. Und so sind Spiele das erste soziale Medium, mit dem Kinder im digitalen Raum starten. Bei der Polizei fehlen nach meiner Erfahrung leider sowohl die Experten für das Thema Kriminalität und Online-Games als auch das Bewusstsein für deren kriminologische Relevanz. Stellen Sie sich mal vor, jemand würde bei der Polizeiführung ein Budget beantragen, um eine PS5, eine Xbox, eine Nintendo Switch und ein Steam Deck zu kaufen. Wie derjenige vermutlich ungläubig angeschaut würde. Dieses Unwissen, mit der Online-Games als Spielkram abgetan werden, ist nicht hilfreich. Vor allem wenn man sich anschaut, wie häufig Sexualstraftäter versuchen, über Spiele an Kinder heranzukommen. Die Spiele selbst sind nicht das Problem. Aber Mitspieler können ein Problem sein. Es kommt hinzu, dass die Spieleindustrie nicht vom Netzwerkdurchsetzungsgesetz betroffen ist. Das heißt, dort muss es kein Meldesystem geben und die Publisher müssen ihre Community-Manager nicht entsprechend schulen. In diesem Feld herrscht noch großer Handlungsbedarf.


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