Corporate Newsroom #6
Eine Vollzeit-Corporate-Influencerin für OTTO, Newsroom-Einführung bei apetito und REWE, Polizeipräsenz in Social Media und weitere spannende Themen
Online-Meinungsumfragen boomen und neue Player mischen den Meinungsmarkt auf – zum Unmut alteingesessener Institute.
Dieser Artikel ist in der vierten Ausgabe unseres Magazins Corporate Newsroom erschienen, das ab sofort als kostenfreier Download zur Verfügung steht.
Beim Buhlen um Aufmerksamkeit in den Netzwerken hat sich eine Methode durchgesetzt: die Umfrage. Auf immer mehr Webseiten finden sich die kleinen Abstimmungswidgets. Der Nutzen fürs Marketing und die Unternehmenskommunikation wächst – die Aussagekraft der Ergebnisse ist allerdings umstritten.
Meinungsforschung ist ein hartes Geschäft. Mit Haken und Ösen bekämpft ein alteingesessenes Umfrageinstitut, Forsa aus Berlin, die Neulinge im Genre. Sie heißen Opinary, Civey und Appinio, versprechen je nach Firma „Marktforschung in Minuten“ (Appinio) oder „repräsentative Umfragen im Internet“ (Civey) – oder zumindest das Abbilden von „Community-Trends“ (Opinary).
Bei Nutzern jedenfalls sind diese Umfragen äußerst beliebt: Mit wenigen Klicks kann man die eigene Meinung zu einem aktuellen Thema abgeben. Und erhält als Ergebnis eine Einordnung des eigenen Standpunkts.
Das erstreckt sich längst nicht nur auf die berühmte Sonntagsfrage „Wen würden Sie wählen?“. „Sind Sie für ein generelles Tempolimit auf der Autobahn?“, „Befürworten Sie die Einführung einer Lebensmittelampel?“ oder „Wird die Corona-Krise Trumps Wahlchancen schaden?“ – so lauten gängige Abfragen. Immer wieder werden diese Umfragen in Artikeln der Medien ausgespielt, zumeist automatisiert. Sie sorgenletztlich dafür, dass die Nutzer etwas länger auf den Seiten bleiben, sich intensiver damit beschäftigen – und vielleicht auch noch auf anschließend eingespielte Werbung klicken.
Während Appinio seine Umfragen mit Hilfe einer App erstellt, gelingt das Modell der anderen neuen Meinungseinholer Civey und Opinary vor allem dank anderer populärer Webseiten: Die Umfragen sind eingebettet in Webseiten von SPIEGEL und WELT, Fit for Fun und t-online.de – oder auch bei öffentlich-rechtlichen Sendern wie dem MDR und dem Bayerischem Rundfunk. Ab einer gewissen Teilnehmerzahl, so wirkt es zumindest, steigt die Vertrauenswürdigkeit der Umfrage.
Beim unbedarften Leser entsteht angesichts hoher Teilnehmerzahlen schnell der Eindruck: Wow, an dieser Online-Umfrage haben mehr als 300.000 Nutzer teilgenommen, das Ergebnis müsste doch eigentlich „besser“ sein als eine Umfrage von nur 1.000 zufällig Befragten! Entscheidend ist jedoch die dahintersteckende Statistik – so gibt es einfache Klicktools, die Stimmen ungeprüft aufsummieren, während Anbieter wie Civey ihre Umfrageteilnehmer verifizieren, daraus eine quotierte Stichprobe ziehen und sie nachgewichten. Dadurch werden die Umfragen repräsentativ, so die Theorie laut Civey.
In der Praxis sprechen dennoch mehrere alte Umfrageinstitute den Neulingen das Repräsentative ab. Forsa und Infas hatten vor dem Presserat Beschwerde eingelegt und gegen Civey verloren. Ein anonymer Twitter-Account namens @civey_watch hat zudem in der Vergangenheit gegen Civey geätzt, in einem Beitrag der ZEIT (nur für Abonnenten; Anm. d. Red.) wird eine Verbindung zu Forsa nahegelegt.
Der Vorwurf, vereinfacht dargestellt: Wenn Nutzer auf einer Seite vom Spiegel eine Meinung in dem eingebetteten Civey-Widget abgeben, welche Partei sie am nächsten Sonntag wählen wollen, rekrutieren sie sich im Grunde selbst – und dann kann das Ergebnis stark vom Umfeld der Umfrage abhängen, etwa ob der Artikel, in dem die Umfrage eingebettet ist, sich positiv oder negativ mit einer Partei beschäftigt. Die althergebrachte etablierte Methode ist jedoch, streng zufallsbasiert Menschen zu befragen.
Ein Argument, dass Janina Mütze nicht gelten lässt. Die Geschäftsführerin von Civey verweist auf eine Million verifizierte und monatlich aktive Nutzer, die ihr Unternehmen mittlerweile in einer Datenbank führt. „Wir haben ein umfassendes Checksystem entwickelt, sodass eine Verzerrung beispielsweise durch Inhalte eines vorherigen Artikels ausgeschlossen werden kann. Auch Bots und Lügen werden erkannt. Wenn sich jemand in einer Umfrage als Rentner zu erkennen gibt und in einer anderen Umfrage antwortet, er wäre 18 Jahre alt, fliegt er raus“, sagt sie – und zwar ohne dass es der Betroffene mitbekommt. Er kann zwar weiterhin abstimmen, seine Stimme fließt aber nicht in die quotierte Stichprobe mit ein, die als Basis für das repräsentative Ergebnis der Abstimmung genutzt wird.
Ohnehin sind nach ihren Worten die „alten“ Methoden der Meinungsforschung angreifbar: „Ich höre oft, Online-Umfragen könnten nicht repräsentativ sein, weil man damit einen Teil der Bevölkerung ausschließt. Zehn Prozent der Deutschen nutzen kein Internet, das stimmt. Das gilt aber für althergebrachte Methoden genauso: Manche Menschen sind nicht per Festnetz oder mobil erreichbar. Wir bieten somit einen neuen Weg mit einem selbstlernenden Algorithmus, der mögliche Verzerrungen korrigiert“, sagt Mütze. Für sie hängt die scharfe Kritik der anderen Institute auch damit zusammen, dass diese viel in ihre Callcenter investiert haben und auf dieser Umfragemethode beharren. In ihrem 60-köpfigen Unternehmen sind jedenfalls zahlreiche Statistiker und Programmierer angestellt, die sich ausschließlich um die Optimierung des Algorithmus kümmern, der repräsentative Daten aus den Rohdaten berechnet.
Matthias Cantow, einer der Betreiber hinter der populären Umfrageplattform wahlrecht.de, hat sich mit seinen Mitstreitern dennoch bisher gegen die Neulinge entschieden: „Wir veröffentlichen bei den Sonntagsfragen die Umfragen von Instituten wie Allensbach, Kantar, Forsa, der Forschungsgruppe Wahlen, Infratest dimap und einiger weiterer“, sagt er.
Im Gespräch verweist er auf deren allgemein anerkannte Methoden der Befragung, nicht nur per Telefon, sondern auch per Online-Panel oder „Face to face“. Bei einigen Abstimmungsanbietern genügt aus seiner Sicht schon ein einziger Aufruf beispielsweise auf einem Facebook-Account der AfD, um Ergebnisse einer Meinungsumfrage zu verfälschen. „Solche interessengeleiteten Teilnahmen von Nutzern lassen sich kaum erkennen und können dann absurde Ergebnisse erzeugen“, sagt er.
Dennoch boomen die Umfragen im Netz. Civey hat in den letzten zwei Jahren nach eigenen Angaben seinen Umsatz verdreifacht. Und für Pia Frey, Mitgründerin und Chief Customer Officer des Berliner Start-ups Opinary, macht ihr Start-up ohnehin keine Meinungs- oder Marktforschung, sondern dient dem Audience Development – „und für unsere zahlenden Werbekunden als Marketingtool“.
Engagement-Raten von bis zu 49 Prozent etwa bei der Frage „Tempolimit auf Autobahnen?“ deuten darauf hin, dass mit Umfragen im Netz viel zu erreichen ist, egal ob mit streng wissenschaftlich etablierten Methoden oder zur vergnüglichen Einordnung eines Trends. Meinungen werden schließlich immer geäußert.
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